Wenn man Nahrungsmittel zuerst an Tiere verfüttert, gehen je nach Nutztier 90 Prozent der Kalorien verloren.
Die mediale Debatte rund um die Ernährungsinitiative ist in den letzten Tagen so richtig gestartet. Zur Erinnerung: Die Initiative fordert, dass der Bund die inländische Lebensmittelproduktion stärkt (Netto-Selbstversorgungsgrad ≥ 70 %), den Konsum stärker auf pflanzliche Lebensmittel ausrichtet und Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit sowie sauberes Trinkwasser sicherstellt. Vision Landwirtschaft hat sich schon früh positioniert: Die Initiative setzt wichtige Impulse, auch wenn nicht alle Forderungen 1:1 umsetzbar sind (siehe auch Vision Landwirtschaft zur Ernährungsinitiative - Vision Landwirtschaft).
Letzte Woche wurde eine neue Studie von Agrarforschung Schweiz veröffentlicht. Sie zeigt, dass sich die Selbstversorgung der Schweiz theoretisch von heute 50 auf 100 Prozent verdoppeln liesse. Die politische und bäuerliche Kritik an dieser Schlussfolgerung wurde sofort laut. Gemüsebauer Samuel Kessens (37) und Vorstandsmitglied von «Vision Landwirtschaft» aus Oberwil-Lieli AG findet hingegen, dass viele Einwände seiner Branchenkollegen zu pauschal seien. «Es wird schnell behauptet, Forschende hätten keine Ahnung vom Bauernwesen. Das stimmt einfach nicht», sagt er.
Kessens wurde für 20 Minuten interviewt. Er erklärt, dass die Transformation zu einer Fruchtfolge mit weniger Futterpflanzen und mehr Pflanzen für die menschliche Ernährung Zeit braucht. «Niemand erwartet eine Umstellung in zwei Jahren. Aber irgendwann muss man anfangen. Schritt für Schritt geht es – wenn der Bund uns in der Übergangszeit unterstützt.» Auch der Konsument spiele eine Rolle: Produkte wie beispielsweise ackerschonende Hülsenfrüchte müssten attraktiver gemacht, Fleisch weniger aggressiv beworben werden.
Beim Thema Kraftfutter sieht Kessens grundsätzlichen Reformbedarf: «Wir haben uns zu stark auf Hochleistungskühe verlassen, die viel Kraftfutter erhalten. Robuste Rassen mit geringerer Fleisch- und Milchleistung, die weniger abhängig von Kraftfutter sind, wären langfristig nachhaltiger.» Zudem betont der Landwirt: «Wenn man Nahrungsmittel zuerst an Tiere verfüttert, gehen je nach Nutztier 90 Prozent der Kalorien verloren, weil das Tier sie für sich selbst verbraucht. Es wäre viel effizienter, diese Pflanzen direkt für Menschen anzubauen.»
Die Debatte zeigt: Auch wenn die Ernährungsinitiative im Initiativtext vielleicht zu weit geht, ist pauschale Ablehnung auch nicht die Lösung. Wir brauchen nämlich eine Politik, die Bauern bei der Umstellung auf mehr Pflanzen für die menschliche Ernährung unterstützt und Konsumenten zu mehr Konsum pflanzlicher Produkten aus regionalem Anbau motiviert – und das ohne gleich den Systemkollaps zu riskieren.
Link zum ganzen 20-Minuten Artikel mit der Haltung von Samuel Kessens (Vorstandsmitglied Vision Landwirtschaft) zur Ernährungsinitiative: Ernährungsinitiative: Bauern uneins über den richtigen Weg - 20 Minuten